Vom bürgerlichen Humanismus zum „Herrenmenschentum“ – Die Transformation moralischer Werte als Ausgangspunkt für den Widerstand im „Dritten Reich“

Bericht zur XXXII. Königswinterer Tagung, 2019

Wie konnte sich seit dem Regierungsantritt der Nationalsozialisten der moralische Referenzrahmen innerhalb kürzester Zeit derart verschieben, dass der bürgerliche Humanismus deutscher Eliten in eine Moral des „Herrenmenschentums“ umschlug und hierdurch Genozid und Vernichtungskrieg erst in den Bereich des sittlich Möglichen rückten? Diese nach wie vor paralysierende Frage hatte sich die Forschungsgemeinschaft 20. Juli 1944 als Thema für ihre XXXII. Jahrestagung in Bonn aufgetragen. Welche subtile Wirkung dabei die nationalsozialistische Sprache ausübte, in welchen lange vor 1933 einsetzenden Kontinuitätslinien der Wertewandel im „Dritten Reich“ stand und wie und aus welchen vielfältigen Motiven sich Widerstand gegen die verheerende Verschiebung des moralischen Referenzrahmens erhob, waren dabei nur einige Aspekte, die auf der Tagung mit dem Titel „Vom bürgerlichen Humanismus zum „Herrenmenschentum“ – Die Transformation moralischer Werte als Ausgangspunkt für den Widerstand im „Dritten Reich““ diskutiert wurden.

CLEMENS KNOBLOCH (Siegen) widmete sich in seinem Vortrag der Technik, mit der Sprache im Nationalsozialismus benutzt wurde, um Macht und Zustimmung zu generieren. Begriffe wie „Volk“, „Rasse“ und „Art“ seien geschickt eingesetzt worden, um Zugehörigkeit und Abgrenzung auszudrücken. So sehr sich die Sprache des „Dritten Reiches“ mit den Phasen der Diktatur über Machtantritt, -ausdehnung und Kriegsausbruch verändert habe, so wichtig sei die Einsicht, dass der Leitbegriff der „Rasse“ für Zeitgenossen so plausibel geklungen habe wie heute der Terminus „Globalisierung“. Diese Omnipräsenz einer Lingua Tertii Imperii habe sogar bis in den Widerstand hinein ausgestrahlt, wie es die Sprache auf Flugblättern verschiedener Widerstandsgruppen belege.

DESIDERIUS MEIER (Passau) diskutierte die Frage, ob es tatsächlich einen Zusammenbruch der alten Welt im Ersten Weltkrieg und in der Weimarer Republik gegeben habe. Es lasse sich nämlich feststellen, dass die Kontinuitäten zum Kaiserreich die Diskontinuitäten im Wandel zur Republik von Weimar überwogen hätten, da es etwa eine Verstaatlichung der Schwerindustrie oder eine Bodenreform gar nicht gegeben habe und auch die alten Eliten zu großen Teilen auf ihren angestammten Posten verblieben seien. Vielmehr sei der Verdacht, die Weimarer Republik sei von Krisen nur so durchschüttelt gewesen, eine zeitgenössische Konstruktion gewesen, die einer ökonomischen und soziokulturellen Überprüfung kaum standhalten würde. Es ließe sich das Fazit ziehen, dass der von den Zeitgenossen wahrgenommene Wandel von dem real vollzogenen unterschieden werden müsse, wenngleich dies zeitweise prekäre Verhältnisse für die Weimarer Republik nicht ausschlösse.

Den Terminus der „Rechtsstaatlichkeit“ griff CHRISTIAN HILLGRUBER (Bonn) auf und ging der Frage nach, ob es sich bei der NS-Revolution um eine legale Revolution gehandelt habe. Dem zeitgenössischen Rechtswissenschaftler Carl Schmitt widersprach er in dessen Auffassung, die „Machtübernahme“ der Nationalsozialisten sei legal abgelaufen und stellte dieser behaupteten Legalität ihre tatsächliche Scheinlegalität gegenüber. Vielmehr habe eine schleichende nationalsozialistische Durchdringung das Zivil- und Strafrecht grundlegend umgestaltet und damit einen permanenten Ausnahmezustand herbeigeführt. Dabei bemerkte Hillgruber, dass sich die theoretischen Überlegungen von Widerstandsgruppen wie dem Kreisauer Kreis eben auf jene Aushöhlung und Abschaffung des Rechtsstaates mit dem Anliegen bezogen hätten, die Unverletzlichkeit des Rechts wiederherzustellen.
FRANK-LOTHAR KROLL (Chemnitz) sprach zur Rolle preußischer Tugenden für das Weltbild des „Dritten Reiches“. Dabei ging er zunächst auf die drei großen Kontaktpunkte der NS-Ideologie mit preußischer Tradition ein, namentlich auf die Bewunderung des NS-Staates für Friedrich den Großen und die preußische Staatsform sowie die Struktur des „preußischen Ordensstaats“, der für die SS einen Vorbildcharakter gehabt habe. Allerdings habe die nationalsozialistische Rezeption preußischer Tugenden die tatsächlichen Merkmale ignoriert, die den Hohenzollernstaat von den übrigen deutschen Ländern unterschieden habe, wie das zeitgenössisch vergleichsweise hohe Maß an Toleranz, Rechtsstaatlichkeit und das fortschrittliche Bildungssystem Preußens. Die „preußischen“ Tugenden des NS-Staates seien vielmehr das Resultat einer Uminterpretation während der Weimarer Republik gewesen. Nichtsdestotrotz besäßen preußische Traditionen auch Anteil an der Etablierung des Nationalsozialismus: Auch wenn klassische Tugenden des Hohenzollernstaates später viele preußische Militärangehörige zum Widerstand animiert hätten, seien es doch auch diese Tugenden gewesen, die am Tag von Potsdam für die Legitimierung des Hitler-Staates herangezogen worden seien.

Zu Beginn des Samstagnachmittags ging VANESSA CONZE (Gießen) der Frage nach der Bedeutung des Treueeides auf Hitler für den Widerstand nach. Bereits vor der NS-Zeit habe der Eid eine herrschaftssichernde Funktion im modernen Staat gespielt. Er habe aber eine gegenseitige Bindung der Person an den Herrschenden dargestellt. Der Eid auf den „Führer“ hingegen habe im Nationalsozialismus das Fundament der Volksgemeinschaft gebildet und als zentraler Akt das Gemeinschaftsverhältnis durch Treue zu Hitler definiert. Als „moralgebendes Ritual“ sei der Eid im Alltag präsent gewesen und habe zu einer Sozialdisziplinierung geführt. Für den Widerstand habe sich somit das Problem ergeben, Eidbrüchigkeit vor sich selbst und der restlichen Bevölkerung moralisch rechtfertigen zu müssen. Letzteres sei noch vielen Menschen in den 1950er-Jahren schwergefallen. Es sei zwar aufgrund fehlender Zeugnisse kaum möglich, die Gedanken der Widerständler nachzuvollziehen, da fast alle Quellen erst nach Ende des Krieges entstanden seien, doch gingen die Argumente immer in Richtung einer Ungültigkeitserklärung des Eides aufgrund des vorherigen Bruchs durch Hitler. Dieses Argumentes hätten sich bereits Goerdeler und Beck bedient.

Ein Verständnis für nationalsozialistische Moralvorstellungen vermittelte WOLFGANG BIALAS (Berlin), indem er den Begriff der „Herrenmoral“ beleuchtete. Zunächst hielt der Referent fest, dass der Nationalsozialismus eine „hoch moralisch aufgeladene Gesellschaft“ gewesen sei, die bestehende Werte also weniger aufgehoben, als vielmehr umgedeutet habe. Es hätten sich in der NS-Ideologie nicht Personen, sondern Rassen, verstanden als biologische Organismen, gegenübergestanden. Das Judentum sei als „Schädling“ der Volksgemeinschaft verstanden worden, den auszurotten ein Sicherheitsinteresse der überlegenen arischen Rasse gewesen sei und deshalb auch moralisch gerechtfertigt gewesen wäre. Nicht mehr sollte Moral den Schwächeren vor dem Stärkeren schützen und dadurch den Stärkeren behindern, sondern an diese Stelle tradierter Moral eine „Herrenmoral“ treten, die es den vermeintlich zur Herrschaft Berufenen ermöglicht habe, ein gutes Gewissen zu behalten. Der Nationalsozialismus habe also ein Umdenken von rassenindifferenter, zu einer rassenbewussten Moral gefordert, die die „Herrenrasse“ in Form eines Rasseinstinktes verinnerlichen sollte. Es habe die Regel gegolten: „Du sollst deinen Volksgenossen lieben wie dich selbst.“

Den Samstagnachmittag beschloss JÜRGEN SCHÄFER (Hagen-Haspe) mit einer Untersuchung des Lebens und Handels des in die Judenvernichtung verwickelten SS-Mannes Kurt Gerstein. Seinen Beitritt in die SS habe Gerstein 1940 nach eigener Angabe nicht aus ideologischer Überzeugung unternommen, sondern um den Gerüchten über Euthanasie nachzuspüren. Mithin sei es in den folgenden Jahren Gersteins selbst auferlegte Aufgabe gewesen, die Kriegsverbrechen, die er als SS-Mann mitbegangen habe, um hinter die Kulissen schauen zu können, zu dokumentieren, zu bezeugen und sein Wissen weiterzugeben, womit er während des Krieges jedoch wenig habe bewirken können. 1945 sei er anhand der von ihm gesammelten Beweise plötzlich selbst als Kriegsverbrecher angeklagt worden und habe in Gefangenschaft Selbstmord begangen. Gerstein habe es sich zum Ziel gesetzt, das zu bezeugen, wovon die meisten Deutschen nichts hätten wissen wollen. Unter dieser Entscheidung habe er selbst stark gelitten, sei aus ihr aber „mit engelreinem Gewissen“ herausgegangen.

Den Samstagabend beschlossen ANNEMARIE FRANKE (Krzyzowa/Kreisau) und KRZYSZTOF RUCHNIEWICZ (Wroclaw/Breslau) mit einer Buchbesprechung zur aktuellen Kreisau-Forschung. Frankes Publikation thematisiert die Geschichte Kreisaus als europäische Begegnungsstätte von der polnisch-deutschen Versöhnungsmesse im Jahr 1989 in Kreisau bis zum Jahr 1998. Einen Blick aus polnischer Sicht auf das ehemals deutsche Gut Kreisau und seine Bedeutung für die polnische Wahrnehmung der Widerstandsgruppe des „Kreisauer Kreises“ wirft RUCHNIEWICZ’ Buch „Kreisau neu gelesen“.

MARIA THEODORA VON DEM BOTTLENBERG-LANDSBERG (Essen) berichtete im ersten Vortrag am Sonntag von der Rolle ihres Vaters als „Netzwerker“ im Widerstand. Karl Ludwig zu Guttenberg, Herausgeber der monarchistischen Zeitschrift „Weiße Blätter“, dürfe der Widerstandsgruppe um Admiral Canaris zugerechnet werden. Dabei sei seine Motivation grundlegend religiös geprägt gewesen: Sein Glaube habe zu Guttenberg nicht nur am Beitritt zur NSDAP gehindert, sondern auch sein Weltbild so geformt, dass er sich gegen den NS-Staat habe stellen müssen. Seine Rolle im Widerstand sei dabei durch seine publizistische Tätigkeit begünstigt worden, die es ihm erlaubt habe, zu reisen und dabei mit Gleichgesinnten in Kontakt zu treten. Ähnlich wie viele Widerstandskämpfer habe er dabei außerordentliche Menschenkenntnis bewiesen, die ihm bei der Rekrutierung und Unterstützung von Mitverschwörern geholfen habe und die ihm vorwiegend durch sein durch den Glauben gefestigtes Weltbild möglich gewesen sei. Aus dem Wirken Guttenbergs lasse sich folgern, dass der Widerstand gegen den Nationalsozialismus weniger als das Werk von Einzelpersonen, als vielmehr das eines großen Netzwerkes zu betrachten sei, was nicht nur als ethisches Vorbild dienen, sondern auch als Beispiel einer gelungenen Gemeinschaft von politisch unterschiedlich Denkenden gelten könne.

KRZYSZTOF RUCHNIEWICZ (Wroclaw/Breslau) bot anschließend einen Blick auf das Gut Kreisau und die Familie Moltke aus polnischer Perspektive. Neben Helmuth James von Moltke sei insbesondere dessen Frau, Freya von Moltke, in ihrem Einsatz im Widerstand zu betonen. Sie und ihr Ehemann hätten nach Kriegsausbruch aus ihrem Bekanntenkreis die Widerstandsgruppe des „Kreisauer Kreises“ geformt, der eine Neuordnung Deutschlands für die Zeit nach dem verlorenen Krieg und dem Ende des Nationalsozialismus theoretisch vorbereitet habe. Dabei hätten sich die Bedingungen, unter denen Deutsche einerseits und Polen in den besetzten Gebieten andererseits Widerstand leisten konnten, gravierend voneinander unterschieden. Unter diesen Bedingungen hätten die Widerstandskämpfer des „Kreisauer Kreises“ bereits denkbar früh erkannt, dass die Zeit nach dem Krieg für Deutschland beträchtliche Gebietsverluste bereithalten würde.

Zum Ende der Tagung führte ROBERT KAIN (Berlin) in die noch relativ junge Widerstandsforschung zum sog. „Rettungswiderstand“ ein. Er stellte klar, dass es auch unter den Bedingungen des „Dritten Reiches“ keines heldenhaften Charakters bedurft habe, um Verfolgte zu retten. Dazu seien Helfer nicht nur durch altruistische oder religiöse, sondern auch durch finanzielle, egoistische oder sexuelle Motive zu ihrem Handeln bewegt worden. Als Beispiel hierfür stehe der Berliner Bürstenfabrikant Otto Weidt, der zahlreiche Juden durch Beschäftigung in seinem Betrieb gerettet, aber auch in einer Liebesbeziehung zu einer durch ihn geretteten Jüdin gestanden habe. Kain verdeutlichte dabei, dass sich die Rettenden dem antisemitischen Kern der nationalsozialistischen Ideologie widersetzt und in ihrem Handeln fundamentale Handlungsalternativen aufgezeigt hätten, das der Mehrheit der Deutschen einen Spiegel vorgehalten und bewiesen habe, dass andere Wege als der in die Komplizenschaft möglich gewesen seien.

Die XXXII. Tagung der Forschungsgemeinschaft 20. Juli hat eindrücklich vor Augen geführt, in welchem schleichenden Prozess einerseits scheinbar unumstößliche moralische Grundnormen im NS-Staat in ihr Gegenteil verkehrt werden konnten und andererseits, auf wie wenig Widerspruch dieser weitgehend sichtbar vollzogene Wandel in der deutschen Öffentlichkeit des „Dritten Reiches“ gestoßen ist. Als ein Ergebnis darf dabei gelten, dass sich gegen diese Verschiebung des moralischen Referenzrahmens Widerstand nur bei Wenigen geregt hat und noch weniger Deutsche hiergegen aus humanistischen, religiösen, politischen oder uneigennützigen Motiven zu aktivem Widerstand übergingen.

Konferenzübersicht:

Abendvortrag

Clemens Knobloch (Siegen): Sprache der Macht – Macht der Sprache. Auf der Suche nach NS-spezifischen Spuren, Verfahren und Techniken

Vormittagssektion

Desiderius Meier (Passau): Der Zusammenbruch der alten Welt in Erstem Weltkrieg und Weimarer Republik

Christian Hillgruber (Bonn): Ein „unbemerkter“ Wandel? Die Aushebelung des Rechtsstaates im „Dritten Reich“

Frank-Lothar Kroll (Chemnitz): „Preußische Tugenden“ – nur noch eine Maske für den totalitären Staat?

Nachmittagssektion

Vanessa Conze (Gießen): Der Eid auf den „Führer“ – Ernstgenommene Bindung oder bequeme Rückzugsposition?

Wolfgang Bialas (Berlin): „Herrenmoral“ für „rassereine Mitglieder der Volksgemeinschaft“ – Die Umwertung der Werte

Jürgen Schäfer (Hagen-Haspe): Von der Schwierigkeit, ein anständiger Mensch zu sein – Kurt Gerstein und die „Zwiespältigkeit des Guten“

Buchgespräch: Annemarie Franke, Das neue Kreisau. Die Entstehungsgeschichte der Stiftung Kreisau für Europäische Verständigung 1989–1998, Augsburg 2017; Krzysztof Ruchniewicz, Kreisau neu gelesen, Dresden 2018

Vormittagssektion

Maria-Theodora von dem Bottlenberg-Landsberg (Essen): „Alle Dinge, tief durchdacht, werden zu religiösen Fragen“ – Karl Ludwig zu Guttenbergs Auseinandersetzung mit dem „Dritten Reich“

Krzysztof Ruchniewicz (Wroclaw/Breslau): Bruch mit der Familientradition? Helmuth James Graf von Moltkes Weg in den Widerstand

Robert Kain (Berlin): Gelegenheit macht (unbesungene) Helden? Das Phänomen des Rettungswiderstandes

Beiträger: Vaneh Andresian / Daniel E.D. Müller / Nils Peterson / Gabriel Weiß, Abteilung für Geschichte der Neuzeit, Institut für Geschichtswissenschaft, Universität Bonn

Tagungsband: Daniel E.D. Müller/Christoph Studt (Hrsg.): Vom bürgerlichen Humanismus zum „Herrenmenschentum“. Die Transformation moralischer Werte als Ausgangspunkt für den Widerstand im „Dritten Reich“ (Schriftenreihe der Forschungsgemeinschaft 20. Juli 1944 e.V., Bd. 27), Augsburg 2021.

Eine Übersicht aller Tagungsbände finden Sie hier.