Ökumenische Plötzenseer Tage 2015

Im Mittelpunkt der „Ökumenischen Plötzenseer Tage 2015“ stand der 70. Jahrestag der Ermordung von Helmuth James von Moltke, Pater Alfred Delp SJ und 11 weiteren NS-Gegnern in der Hinrichtungsstätte Berlin-Plötzensee. Pfarrer Fritz Delp (Neffe von Alfred Delp) hielt am 25. Januar den folgenden Vortrag:

Una sancta in vinculis


Ich möchte einerseits die familiären Bezüge Alfred Delps aufzeigen, wie diese seine
Entwicklung beeinflussten und andererseits die enge Beziehung zu Moltke, gerade
während der Gefangenschaft. Denn ich bin der Meinung, dass man Delp nicht ohne
Moltke denken kann und auch nicht ohne all die Freunde des sogenannten Kreisauer
Kreises. Am deutlichsten können wir das heraushören, wenn wir Delp und Moltke
selbst zu Wort kommen lassen mit ihren zahlreichen Kassibern aus dem Gefängnis.
Hier entdecke ich einen Auftrag, eine Hinterlassenschaft, ein Erbe.
Alfred Delp wird am 15. September 1907 als ältester Sohn des evangelischen
Krankenkassenbeamten Friedrich Delp und der katholischen Maria, geb. Bernauer, in
Mannheim geboren. Er wird in der katholischen Oberen Pfarrei zu Mannheim getauft.
Die Familie Delp wohnt bis 1914 in Hüttenfeld, einem kleinen Ort in Südhessen.
Nach dem Umzug ins nur wenige Kilometer entfernte Lampertheim besuchte Delp
die evangelische Volksschule und wird 1921 konfirmiert. Geprägt wird er jedoch
durch die katholische Frömmigkeit seiner Mutter. Nach einem Konflikt mit dem
evangelischen Ortspfarrer geht er zum Kommunionsunterricht und wird bereits im
Juni 1921 gefirmt. Anteil an dieser „Reversion“ hat auch der katholische Pfarrer
Unger, der dem jungen Delp die Aufnahme im Gymnasium in Dieburg sowie dem
angeschlossenen bischöflichen Konvikt ermöglicht.
Man kann sich heute vielleicht nur schwerlich vorstellen, was diese kurzen
biographischen Sätze bedeuten und welche Auswirkungen sie letztendlich auf die
Entwicklung Alfred Delps haben. Darum möchte ich gerade hier noch einmal
ansetzen:
Als erstes fällt wohl das konfessionelle Hin und Her auf, in dessen Spannungsfeld
sich die Familie bewegte. Der Vater evangelisch, die Mutter katholisch, und das zu
Beginn des vorvergangenen Jahrhunderts. Also in einer Zeit, in der beide
Konfessionen keinen Weg zueinander fanden und jede Gelegenheit nutzten, um die
damals bekannten Feindbilder (Stichworte waren da immer noch: „Kulturkampf“ auf
der einen Seite und „Gegenreformation“ auf der anderen) zu pflegen. Die Eltern
mussten sich gegenüber ihren Familien erst durchsetzen, um am 15. Oktober 1907
schließlich heiraten zu können. Da waren schon zwei Kinder geboren, denn Alfred
hatte noch eine ältere Schwester, Justina, die von ihren Großeltern im badischen
Odenwald großgezogen wurde. Kann man sich heute noch vorstellen, welche
familiären Konflikte die Verbindung der Eltern von Alfred Delp heraufbeschwor?
Ist vielleicht schon hier, in den biographischen Ursprüngen, die Bereitschaft zur
Zusammenarbeit und schließlich auch die Freundschaft zu dem Protestanten Moltke
und dem evangelischen Pfarrer Gerstenmaier angelegt? „Diese betende Una Sancta
in vinculis“, wie Delp in einem seiner zahlreichen Kassiber aus dem Gefängnis die
Beziehung zu den mitgefangenen Freunden beschrieb? Sind hier seine Gedanken
begründet, die er „den Kirchen“ in seinen Ausarbeitungen über das „Schicksal der
Kirchen“ ins Stammbuch schrieb?
Der Auftrag oder das Erbe, das ich hier entdecke, findet sich in den Stichworten:
Dienst am Nächsten, Diakonie, Verständnis und Aufeinanderzugehen der großen
Kirchen – und zwar nie nur in theoretischen Gedankenansätzen und wohlformulierten
theologischen Aussagen, sondern immer ganz pragmatisch und real. Weiter
entdecke ich in diesen Ausführungen eine große Nähe zu Dietrich Bonhoeffer und
seiner Vision der „Kirche für andere“.
Aber der Schwerpunkt soll heute auf der lebendigen Ökumene dieser Menschen
liegen, die sie im Totenhaus von Tegel im Angesicht des Todes in einer einzigartigen
Weise lebten.
In der existentiellen Situation des Widerstandes gegen die Nazis und der
gemeinsamen Haft bildete sich diese Ökumene in einzigartiger Weise heraus. Sie
entwickelt ein Bibelverständnis, das sich auf das Wesentliche konzentriert und damit
zur Brücke der Verständigung für die Glaubenden der beiden großen Konfessionen
wird. Die Menschen, die sich hier zu Wort melden, waren sich in ihrer Überzeugung
einig, dass sich die Ideologie der Nazis und der christliche Glaube gegenseitig
ausschließen und mit Hitler der personifizierte Antichrist sein blutiges Regime
angetreten hatte. Vielleicht fällt uns dabei ein, dass in der evangelischen Kirche ja
schon Johannes Calvin und Martin Luther die Meinung zum Ausdruck brachten, dass
es dem Christenmenschen geboten sei, einer ungerechten und erpresserischen
Gewaltherrschaft entgegenzutreten. Wir haben das lange verschwiegen. Wenn wir
uns aber zurückbesinnen auf die Gewaltherrschaft in Deutschland und auf die
Christenmenschen, die ihr widerstanden, und wenn wir überlegen, in wieviel Ländern
dieser Erde grausame Tyrannen herrschen oder die Menschen durch die Tyrannei
unmenschlicher Wirtschaftsbedingungen ausgebeutet werden, dann ist es gut, wenn
wir uns hierüber neu Gedanken machen. Die ökumenische Bibellektüre von Moltke
und Delp fordert dazu heraus. Sie lässt die alten Texte neu leuchten und sie
bekommen eine Aktualität, der gegenüber die traditionelle Bibelauslegung recht
weltfremd anmutet, weil sie Produkt privilegierter Schreibtischtheologen ist, während
sie im Tegeler Gefängnis ein Produkt gemeinsamer Lebenserfahrung an der
Schwelle des gewaltsamen Todes ist. Damit ist diese Bibelauslegung eine kritische
Anfrage an unser eigenes Bibelverständnis, das möglicherweise mehr die Privilegien
einer Industrienation als die ursprüngliche Botschaft Jesu widerspiegelt. Wer sich
damit auseinandersetzt, gerät in eine betroffene Verlegenheit, mit der er nicht so
leicht fertig werden wird, und die ihn vielleicht dazu zwingt, neue christlichökumenische und auch gesellschaftliche Einsichten nicht länger von sich
fernzuhalten.
Doch schauen wir zurück auf die Lebens- und Existenzbedingungen im Widerstand
des Dritten Reiches: Die meisten deutschen Bischöfe verhielten sich loyal gegenüber
dem NS-Staat und katholische und evangelische Kirchenleitungen fanden in ihrem
punktuellen Widerspruch gegen Unrechtsmaßnahmen nicht zu gemeinsamen
Aktionen. Anders sah es an der „Basis“ aus. Einzelne Frauen und Männer folgten
ihrem Gewissen und leisteten Widerstand, der sie über Konfessionsgrenzen hinweg
miteinander verband. Manche bezahlten dafür mit dem Leben. Dazu gehörten auch
die Kreisauer Freunde Moltke und Delp und auch Gerstenmaier, die sich bereits aus
ihrer Arbeit im Widerstand gegen Hitler vertraut waren. Im Tegeler Gefängnis
begegnete sich diese Schicksal- und Glaubensgemeinschaft erneut und vertiefte dort
im Angesicht des Todes ihre Freundschaft, die sich im gemeinsam gelebten Glauben
manifestierte. Sie saßen in benachbarten Zellen und mit ihnen auf dem gleichen
Trakt Fürst Fugger von Glött. Zwei Katholiken und zwei Protestanten sind es nun, die
ein intensives Glaubens- und Gebetsleben durch die Gefängnismauern hindurch
praktizieren.
In der Zeit der Abfassung seiner größeren Texte erlebt Delp die geistliche
Gemeinschaft mit diesen vier Mitgefangenen. Er schreibt in einem seiner zahlreichen
Kassiber: „Vor Weihnachten haben wir 4 wieder eine gemeinsame Novene
angefangen. Diese betende Una Sancta in vinculis. Für Moltke wird in der Krypta von
St. Gereon in Köln jeden Tag Messe gelesen… Ach, wenn doch der Weihnachtsstern
aufginge.“
Alle Freunde haben Bibeln in ihrer Zelle. Sie lesen gemeinsam bestimmte Texte und
meditieren über sie, sie beten für sich und für andere und sie singen bestimmte
Strophen aus ihrem Liederschatz. Im Tegeler Gefängnis ereignet sich ein intensives
gemeinsames religiöses Leben, orientiert an der Hebräischen Bibel und am Neuen
Testament. Eine kleine bibellesende Gemeinde in Fesseln vergewissert sich ihres
Herrn gegen die Herren ihrer Zeit und ihres Lebens.
Eine Frucht dieses ökumenischen Austauschs scheint sich auch in Delps folgenden
Gedanken niedergeschlagen zu haben. Er schreibt:
„Der europäische Mensch verträgt die nächsten hundert Jahre keine Bündnisse
zwischen Thronen irgendwelcher Art und den Altären. Es muss um den Menschen
gehen, der an der Straße liegt, um seine Wiederherstellung. Das Schicksal der
Kirchen wird in der kommenden Zeit nicht von dem abhängen, was ihre führenden
Instanzen an sog. Klugheit und Gescheitheit aufbringen, sondern man muss wieder
wissen und spüren und erfahren, dass sie die Rufe der Sehnsucht und der neuen
Aufbrüche hört und beantwortet, dass die Anliegen der Menschen nicht nur in den
Aktenschränken abgelegt werden, sondern als ‚Anliegen’, d. h. Sorgen und Aufgaben
gewertet und behandelt werden. Wir haben durch unsere Existenz den Menschen
das Vertrauen zu uns genommen. 2000 Jahre Geschichte sind nicht nur Segen und
Empfehlungen, sondern auch Last und schwere Hemmung. Und gerade in den
letzten Zeiten hat ein müde gewordener Mensch in der Kirche auch nur den müde
gewordenen Menschen gefunden.
Von zwei Sachverhalten wird es abhängen, ob die Kirche noch einmal einen Weg zu
diesen Menschen finden wird. Das eine gleich vorweg: dies ist so selbstverständlich,
dass ich es gar nicht weiter eigens aufzähle. Wenn die Kirchen der Menschheit noch
einmal das Bild einer zankenden Christenheit zumuten, sind sie abgeschrieben. Wir
sollen uns damit abfinden, die Spaltung als geschichtliches Schicksal zu tragen und
zugleich als Kreuz. Und zugleich soll sie unsere dauernde Schmach und Schande
sein, da wir nicht imstande waren, das Erbe Christi, seine Liebe, unzerrissen zu
hüten. Der andere Sachverhalt meint die Rückkehr der Kirchen in die Diakonie: in
den Dienst der Menschheit. Das heißt doch das Sich-Gesellen zum Menschen in
allen seinen Situationen mit der Absicht, sie ihm meistern zu helfen. Damit meine ich
das Nachgehen und Nachwandern auch in die äußersten Verlorenheiten und
Verstiegenheiten des Menschen, um bei ihm zu sein genau und gerade dann, wenn
ihn Verlorenheit und Verstiegenheit umgeben. „Geht hinaus“, hat der Meister gesagt,
und nicht: „Setzt euch hin und wartet, ob einer kommt.“ Man soll deshalb keine
großen Reformreden und keine großen Reformprogramme entwerfen, sondern sich
rüsten, der ungeheuren Not des Menschen helfend und heilend zu begegnen.“
Gerstenmaier macht Delp ein kleines Weihnachtsgeschenk. Delp schreibt ihm am
letzten Tag des Jahres: „Das war ein schönes Weihnachtsgeschenk. Und wenn wir
wieder draußen sind, wollen wir zeigen, dass mehr damit gemeint war und ist als
eine persönliche Beziehung. Die geschichtliche Last der getrennten Kirchen werden
wir als Last und Erbe weitertragen müssen. Aber es soll daraus niemals wieder eine
Schande Christi werden. An die Eintopfutopien glaube ich so wenig wie Du, aber der
eine Christus ist doch ungeteilt und wo die ungeteilte Liebe zu ihm führt, da wird uns
vieles besser gelingen als es unseren streitenden Vorfahren und Zeitgenossen
gelang. – Ich habe auch außer der Messe das Sakrament immer in der Zelle und rede
mit dem Herrn auch oft über Dich. Er weiht uns hier zu einer neuen Sendung. Alles
Gute und seinen gnädigen Schutz.“
Und ein Neujahrsgruß an Moltke beginnt mit dem Satz: „Zum Neuen Jahr einen
guten Wunsch und des Herrgotts gnädigen Schutz. Auf ihn kommt es an. Und Dank
für Ihr Beispiel der Unermüdlichkeit trotz der miserablen Lage und trotz der
körperlichen Beschwerden.“
Moltke seinerseits schreibt einen Kassiber an die Freunde: „Der Herr hat uns
wunderbar bisher geführt; er hat in den letzten zwei Monaten auch im menschlichen
Kausalzusammenhang Stellen gezeigt, die uns günstige Wendungen vorbereiten und
ermöglichen können; er hat uns durch vielerlei Zeichen gezeigt, dass er bei uns ist.
Daraus schließe ich, dass, wenn ich ständig darum bitte, er weiter uns spüren lassen
wird, dass er bei uns ist; aber das kann er am Galgen in Plötzensee genau so gut
tun, wie in der Freiheit in Kreisau oder sonstwo. Ich will meinem Fleisch nicht
erlauben, sich auf das Faulbett angeblicher göttlicher Verheißung weiteren Lebens
zu legen und das täte ich so gerne. Ich muß es mit dem Bewusstsein des nach
menschlicher Erkenntnis in wenigen Tagen oder höchstens Wochen bevorstehenden
Todes ständig züchtigen, wenn ich es im rechten Zustand des „Wachet und Betet“
erhalten will. Ich kann nicht glauben und kann mir auch nicht erlauben zu glauben,
dass Gott mir heute offenbaren wird, was er morgen mit uns vorhat. Mir jedenfalls
antwortet er, sobald ich neugierig werde, wie er es Paulus schon in anderem
Zusammenhang getan hat: ,Laß Dir an meiner Gnade genügen.“ – Das dürft Ihr aber
nicht Unglauben nennen, genau so wenig wie ich Euch für Magier halte. Und damit
Gott befohlen! Auch im neuen Jahr, ich halte Lukas l, 74 + 75 sehr schön, aber
vielleicht darf ich meinem Temperament gemäß vorschlagen, Rom 14, 8 nicht aus
den Augen zu lassen. Eines aber ist ganz gewiß, dass wir ohne Unterlaß beten
dürfen und müssen.“
( Lk.l: Verse aus dem Lobgesang des Zacharias: „…dass wir, erlöst aus der Hand
unserer Feinde, ihm dienten ohne Furcht unser Leben lang in Heiligkeit und
Gerechtigkeit vor seinen Augen.“ Und R. 14: „Leben wir, so leben wir dem Herrn;
sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Darum: wir leben oder sterben, so sind wir
des Herrn.“)
In den Verhandlungen am 9. Und 10. Januar ist es Freisler selbst, der Vorsitzende
des Volksgerichtshofs, der die entscheidenden Sätze über das Verhältnis von
Christentum und Nationalsozialismus spricht. Moltke erkennt diesen Zusammenhang
in seinem Ankläger und Richter Freisler: „Letzten Endes entspricht diese Zuspitzung
auf das kirchliche Gebiet dem inneren Sachverhalt und zeigt, dass Freisler eben
doch ein guter politischer Richter ist. Dass wir nun für etwas umgebracht werden,
was wir a. getan haben und was b. sich lohnt… Wir haben nur gedacht…. Und vor
den Gedanken dieser drei einsamen Männer (Moltke, Gerstenmaier, Delp), den
bloßen Gedanken hat der N.S. eine solche Angst, dass er alles, was damit infiziert
ist, ausrotten will. Wenn das nicht ein Kompliment ist. Wir sind nach dieser
Verhandlung aus dem Goerdeler-Mist raus, wir sind aus jeder praktischen Handlung
heraus, wir werden gehenkt, weil wir zusammen gedacht haben. Freisler hat Recht,
tausend Mal recht, und wenn wir schon umkommen müssen, dann bin ich allerdings
dafür, dass wir über dieses Thema fallen.“
Delp denkt ähnlich: „Durch die Art des Prozesses hat das Leben ja ein gutes Thema
bekommen, für das sich leben und sterben lässt.“
In seinem nächsten Brief berichtet Moltke zunächst über sein persönliches Gefühl
während und nach der Verhandlung: er ist voll Dank, dass Gott ihn „so klar und fest“
geführt hat: „der ganze Saal hätte brüllen können, wie der Herr Freisler, und
sämtliche Wände hätten wackeln können, und es hätte mir garnichts gemacht; es
war wahrscheinlich so, wie es im Jesaja 43, 2 heisst: Und so du durch Wassergehst,
will ich bei dir sein, daß dich die Ströme nicht sollen ersäufen; und so du ins Feuer
gehst, sollst du nicht brennen und die Flamme soll dich nicht versengen . … Mir war,
als ich zum Schlusswort aufgerufen wurde, so zu Mute, daß ich beinahe gesagt
hätte: Nehmen sie den Leib, Gut, Ehr, Kind und Weib, laß fahren dahin, sie haben’s
kein Gewinn, das Reich wird uns doch bleiben. Aber das hätte doch die anderen
noch belastet.“
Er weiß: Der kommende Weg wird für ihn und die Freunde schwer. Sie leben in ihren
Einzelzellen von dem getrennten, aber doch gemeinsamen Lesen von Texten des
Neuen Testamentes: für den 9. Januar hatte Gerstenmaier ausgesucht Lk. 5,1-11,
der Fischzug des Petrus, für den 10. Januar Mt. 14, 22-33, die Geschichte des
sinkenden Petrus auf dem See. Und sie lesen aus dem 2. Korinther-Brief Kapitel 4,
7ff: „Wir haben aber diesen Schatz (gemeint ist die Erkenntnis der ‚Herrlichkeit
Gottes in dem Angesicht Jesu Christi’) in irdenen Gefäßen, damit die
überschwängliche Kraft von Gott sei und nicht von uns. Wir sind von allen Seiten
bedrängt, aber wir ängstigen uns nicht. Uns ist bange, aber wir verzagen nicht. Wir
leiden Verfolgung, aber wir werden nicht verlassen. Wir werden unterdrückt, aber wir
kommen nicht um. Wir tragen allezeit das Sterben Jesu an unserem Leibe, damit
auch das Leben Jesu an unserem Leibe offenbar werde. Denn wir, die wir leben,
werden immerdar in den Tod gegeben um Jesu willen, damit auch das Leben
offenbar werde an unserem sterblichen Fleisch.“
Diesen Paulusbrief hatten sie in den letzten Wochen im Ganzen gelesen. Sie
begreifen wie der Apostel ihr Verfolgtwerden als eine Leidensgeschichte in der
Nachfolge des Herrn. Deshalb ihr Bewusstsein, einen sinnvollen Tod zu sterben.
Das Leben im Angesicht des Todes endet in dem Bewusstsein, durch ihren
gewaltsamen Tod Gott und seinen Sohn als entscheidende Wirklichkeit vor den am
Ende ohnmächtigen Herren dieser Welt zu bezeugen. Sie begreifen ihr Leiden und
ihren Tod als Zeugnis in der Nachfolge dessen, an den sie glauben. Moltke schreibt
in seinem letzten Kassiber an Delp: „Wir haben als Leidende einen Auftrag erfüllt…
Dafür kann es nur Dank geben, auch wenn der Weg nach Plötzensee führt… Der
Weg führe uns in die Freiheit oder an den Galgen!“
Und in einem Zusatz sagt er: „Im übrigen hoffe ich, dass Sie einen Bericht
geschrieben haben, der jenes dramatische Moment des unüberbrückbaren
Gegensatzes zum Christen klar hervortreten lässt. Denn wir wollen, wenn man uns
schon umbringt, doch auf alle Fälle reichlich Samen streuen.“
Moltke wird am 23. Januar 1945 in Plötzensee aufgehängt. Ein letztes kurzes
Gespräch führt er mit dem katholischen Gefängnispfarrer Peter Buchholz, der von
Harald Poelchau über das Kommen Moltkes kurz vorher informiert worden war. Mit
ihm zusammen sterben sein sozialdemokratischer Freund Theo Haubach, der
bayrische Diplomat Franz Sperr, der Mann der katholischen Arbeiterbewegung
Nikolaus Gross und der Zentrumsmann Eugen Bolz.
Alfred Delp hat wie Moltke über seine Eindrücke und Wertungen seines Prozesses
geschrieben:
„Unsere Verhandlung war gestellt auf Moltkes und meine Vernichtung. Alles andere
waren Kulissen und Statisten.“
Delp erlebt das Verfahren genauso wie sein Freund. Und genauso wie er fühlt er:
„Ich würde gern noch weiterleben und gern und erst recht weiter schaffen und viele
neue Worte und Werte verkünden, die ich erst jetzt entdeckt habe. Es ist anders
gekommen.“
Delp schreibt unentwegt weiter. Am Todestag von Moltke notiert er: „..heute ist ein
harter Tag. Nun sind alle meine Freunde und Gefährten tot, nur ich bin
zurückgeblieben. Hier jetzt der Einzige im Eisen.“
Einen Tag später: „Aber warum ich ohne Helmuth? Ob es ein verlängerter Kreuzweg
ist? Oder das Zwischenstück zum festen Boden?“ und: „Mit Helmuth und den andern
ist viel Hilfe weggegangen.“
In seinem letzten Brief vom 26. Januar heißt es: „Diese Woche war die härteste und
elendeste Zeit seit Juli. Der Tod der Freunde, besonders Helmuths, ist an sich schon
bitter. Dazu das so nahe und grausame Erlebnis der Logik des Unheils, des
Vernichtungswillens bis zuletzt. Und dann wieder das so eigenartige
Übriggelassenwerden. Ich fühle mich dadurch neu verpflichtet, zu leben und zu
hoffen. Obwohl es mir noch nie so schwer gefallen ist, wie diese Woche. Hinter der
‚Ausnahme’ steht keine gute Absicht. Aber der Herrgott kann auch aus Prügeln einen
Knüppeldamm übers Meer bauen. Mehr brauch ich ja nicht.“
Am 31. Januar wird Delp nach Plötzensee gebracht. Er kann zusammen mit Peter
Buchholz seine letzte Kommunion feiern und in der „Nachfolge Christi“ von Thomas
von Kempen lesen.
Am 2. Februar 1945 wird er nach einem letzten Gespräch mit Peter Buchholz
zusammen mit Carl Goerdeler und Johannes Popitz gehängt. Das letzte Wort, das er
auf dem Weg zur Hinrichtung dem katholischen Gefängnispfarrer sagte, lautete
heiter: „In einer halben Stunde weiß ich mehr als Sie“. Seine Asche wurde auf den
Rieselfeldern Berlins verstreut, wie ein Führerbefehl angeordnet hatte.
Moltke und Delp haben sich nach ihrem eigenen Selbstverständnis als Christen in
ökumenischer Glaubensgemeinschaft für den von ihnen bezeugten Gott Jesu Christi
hängen lassen.
Ich komme noch einmal auf ein Zeugnis dieser kleinen Glaubensgemeinschaft im
Tegeler Gefängnis zurück. In der Silvesternacht 1944 – als Bonhoeffer sein Gedicht
von den „guten Mächten“ schrieb, bekam Gerstenmaier von Alfred Delp diese Notiz:
„Sorge dafür, tu das Deine, dass – was auch komme – unsere Kirchen in ihrer
Uneinigkeit unserem gemeinsamen Herrn nicht mehr Schande machen. Wir haben
es so lange getan. Es soll und muss ein Ende haben.“
Die lebendige Ökumene dieser Menschen, die sie im Totenhaus von Tegel im
Angesicht des Todes in einer einzigartigen Weise lebten, kann und sollte uns und
unseren Kirchen ein Vermächtnis sein.