Bericht zur XXXVII. Königswinterer Tagung, 2025
Mit dem Titel „Geist und Barbarei – Kultur im Widerstand?“ stellte die XXXVII. Königswinterer Tagung eine grundlegende Frage nach der politischen und ethischen Verortung von Kultur in totalitären Systemen. Im Zentrum stand die Ambivalenz kulturellen Handelns unter den Bedingungen nationalsozialistischer Herrschaft: Wie reagierten Künstlerinnen und Künstler auf ideologischen Zugriff, Zensur und Propaganda? Welche Formen ästhetischer Opposition, symbolischer Selbstbehauptung oder stiller Dissidenz ließen sich im kulturellen Feld erkennen – und mit welchem Risiko wurden sie artikuliert? Die Beiträge der Tagung nahmen ganz unterschiedliche kulturelle Akteure – von Schriftstellern und Kabarettisten über Künstlerinnen und Karikaturisten bis hin zu Filmschaffenden und Jugendlichen in Subkulturen – innerhalb eines repressiven Regimes, das systematisch versuchte, geistige und kulturelle Ausdrucksformen zu kontrollieren, zu instrumentalisieren oder zu vernichten, in den Blick.
Dabei wurde der Begriff des „Widerstands“ nicht als eindeutige Kategorie verstanden, sondern vielmehr kritisch reflektiert und kontextualisiert. Denn die Grenze zwischen Konformität und Opposition, zwischen privater Dissidenz und öffentlicher Subversion erwies sich als fließend. Die kulturhistorischen Fallstudien machten deutlich, dass kulturelle Praktiken unter dem Nationalsozialismus stets zwischen den Polen von Selbstbehauptung und politischer Vereinnahmung oszillierten – und dass gerade in den Grauzonen zwischen Zustimmung und Ablehnung das Spannungsfeld künstlerischer Existenz in der Diktatur besonders sichtbar wird.
Eröffnet wurde die Tagung durch JEANNETTE URZENDOWSKY, CHRISTOPH STELLOWSKY und TAL BALSHAI am Klavier (alle Berlin), die in einem musikalisch-szenischen Vortrag Einblicke in die Kabarettkultur der 1920er- und 1930er-Jahre boten. Die dargebotenen Lieder und Texte wurden historisch kontextualisiert und sowohl politisch als auch biographisch eingeordnet. Der Kabarettstil jener Zeit sei, so die beiden Künstler, als Reaktion auf die politischen und sozialen Krisen der Weimarer Republik zu verstehen. Unter den Bedingungen des „Dritten Reiches“ habe die öffentliche Aufführung solcher Werke jedoch erhebliche persönliche Risiken bedeutet – nicht zuletzt aufgrund ihrer in der Regel schonungslosen Offenheit.
Mit einem geschichtspolitischen Zugriff auf die Kulturpolitik des NS-Staats eröffnete CHRISTOPH STUDT (Bonn) den wissenschaftlichen Teil der Tagung. Er hob hervor, mit welcher Geschwindigkeit die Reichskulturkammer 1933 etabliert worden sei – eine Entwicklung, die zwangsläufig zu Überorganisation, Intransparenz und administrativer Willkür geführt habe. Letztere sei jedoch nicht als Defizit, sondern vielmehr als intendiertes Machtmittel zu begreifen: Die Angst vor der Unberechenbarkeit habe den Konformitätsdruck unter Künstlerinnen und Künstlern erheblich gesteigert. Gleichwohl – so Studts Einschätzung – könne von einer totalen ideologischen Durchdringung der Kunst nicht die Rede sein. Zwischen Verbot und Erlaubtem habe ein Graubereich bestanden, den Manche bewusst ausgelotet, Andere hingegen durch künstlerische Enthaltsamkeit vermieden hätten. Ungeachtet dieser Nuancen seien die Machtverhältnisse eindeutig gewesen: Die Kunst sei dem nationalsozialistischen Machtapparat untergeordnet gewesen.
Der umstrittene Begriff der „inneren Emigration“ stand im Zentrum des Beitrags von GUNTHER NICKEL (Mainz). Nach einer prägnanten Begriffsklärung – als Haltung der inneren Ablehnung ebenso wie als zeitgenössisch verwendete Zuschreibung ab 1933 – analysierte Nickel exemplarisch die Haltungen von Thomas Mann, Bertolt Brecht und Ernst Jünger. Alle drei hätten den Nationalsozialismus abgelehnt, jedoch aus unterschiedlichen weltanschaulichen und ästhetischen Motiven. Besonders Jünger erschien als ambivalente Figur: Anfangs NS-affin, habe er sich bereits 1929 kritisch distanziert. Nickel betonte, dass aus literarischen Zeugnissen der Ablehnung keineswegs auf die politische Stimmung in der Bevölkerung geschlossen werden könne – ein Plädoyer für hermeneutische Zurückhaltung angesichts der künstlerischen Opposition von Wenigen.
Einen Einblick in die psychologische Dimension innerer Emigration bot GREGOR EISENHAUER (Berlin) mit seiner Analyse des Wirkens von Erich Kästner. Der bekannte Schriftsteller habe sich bewusst gegen die Emigration entschieden und sich als „bleibender Beobachter“ stilisiert. Trotz seiner Gegnerschaft zum Regime habe er – gestützt auf persönlichen Erfolg und gute Beziehungen – unter Pseudonym weiterarbeiten und sogar Drehbücher für NS-Produktionen verfassen können. In der Selbstdeutung habe Kästner stets an seiner Rolle als „unabhängiger Chronist“ festgehalten, ohne sich als Mittäter zu begreifen. Der Referent sah genau in diesem Widerspruch die Tragik Kästners, der bis zu seinem Lebensende unter seiner ambivalenten Vergangenheit gelitten habe: Kästner sei an seinem Anspruch gescheitert, die Menschen und das Geschehene im „Dritten Reich“ zu verstehen, und als er diesen Widerspruch in seiner eigenen Person erkannt habe, sei er an seinen Schuldgefühlen versteinert und habe sich im Alkoholismus verloren.
Ein anderes Profil kultureller Opposition zeigte sich im Leben und Werk von Carl Zuckmayer, dessen Rolle JOACHIM SCHOLTYSECK (Bonn) untersuchte. Zwar sei Zuckmayer kein klassischer Widerstandskämpfer gewesen, doch habe er frühzeitig Anschluss an oppositionelle Netzwerke gefunden und den Nationalsozialismus von Beginn an abgelehnt. In seinen literarischen Arbeiten habe er subversive Botschaften platziert und sich auch in der Nachkriegszeit aktiv für ein demokratisches Deutschland engagiert. Besonders markant sei seine Ablehnung der Kollektivschuldthese gewesen – ein Bekenntnis zu individueller Verantwortung.
Ein kultursoziologischer Blick prägte den Vortrag von ALENKA BARBER-KERSOVAN (Lüneburg), die die Swing-Jugend als subkulturelles Phänomen unter dem Nationalsozialismus beleuchtete. In Hamburg beispielsweise habe sich die Szene auf bis zu 2000 Jugendliche belaufen, vorwiegend zwischen 16 und 21 Jahren alt. Diese Minderheit der Swings habe – über die spezifische Musik hinaus – die Innenstädte zur Bühne ihres nonchalanten und extravaganten Lebensstils gemacht. Die Referentin argumentierte, dass der fehlende Politikbezug des Swing irrelevant für ihre Verfolgung gewesen sei, da ihr Hedonismus und ihre Sehnsucht, das Leben zu genießen, im Widerspruch zu den Normen der Hitlerjugend gestanden hätten. Bemerkenswert sei, dass dennoch etwa 40 % der Hamburger Swings gleichzeitig Mitglieder der HJ gewesen seien – ein interessanter Beleg für die Grenzen totalitärer Kontrolle. Die staatliche Repression habe die subkulturelle Identität sogar eher gefestigt als zerstört. Der Swing habe, so die Referentin, den Krieg überlebt und in späteren Jahrzehnten ein kulturelles Comeback erlebt.
Mit cineastischem Fokus untersuchte CLEMENS SCHAEFFER (Berlin) die Rolle des Films im „Dritten Reich“. Die Nationalsozialisten hätten früh das propagandistische Potenzial dieses Mediums erkannt und 1933 unter Goebbels mit der Reichsfilmkammer dessen vollständige Kontrolle institutionalisiert. Der Film sei dabei keineswegs bloßes Unterhaltungsmedium gewesen, sondern habe gezielt zur ideologischen Beeinflussung eingesetzt werden sollen. Exemplarisch zeige sich dies in der Produktion antisemitischer Propagandafilme wie „Der ewige Jude“. Schaeffer machte deutlich, dass die kulturelle Kraft des Mediums Film im NS-Staat ebenso wirksam wie gefährlich war.
MATTHIAS HEINE (Berlin) wandte sich in seinem Beitrag der Sprache des Nationalsozialismus zu. Die von ihm rekonstruierte Forschungsgeschichte reichte von zeitgenössischen Wörterbüchern über Victor Klemperers „LTI“ bis hin zu aktuellen Studien zur Sprachverwendung der Neuen Rechten. Trotz einer gewissen Heterogenität habe sich eine spezifische NS-Sprache mit eigentümlicher Semantik, Metaphorik und Stilistik herausgebildet – darunter die häufige Verwendung von Neologismen („Vergeltungswaffen“, „Sippenhaftung“) oder Hochwertwörtern („Volk“, „Rasse“, „Reich“), häufige Metaphern zu Kampf und Krieg, die sprachliche Abkühlung durch Technikmetaphern („Gleichschaltung“), Biologisierungen („Parasiten“) und Dehumanisierungen („Menschenmaterial“) sowie die Vereinnahmung messianisch-religiösen Sprachgebrauchs („Glaube an den Führer“). Heine hob hervor, dass sich aus dieser Sprache nicht nur historische Erkenntnisse, sondern auch gegenwartsbezogene Warnsignale ableiten ließen.
Einen weniger bekannten, aber umso eindrucksvolleren Fall stellte IRIS HAIST (Köln) mit ihrem Vortrag über den Karikaturisten Erich Ohser (e.o. plauen) vor. Ohser, der zunächst mit regimekritischen Zeichnungen aufgefallen sei, habe bald ein Berufsverbot erhalten und unter Pseudonym weitergearbeitet – teils mit unpolitischem, teils mit propagandistischem Inhalt. 1944 sei er wegen Wehrkraftzersetzung verhaftet worden und habe sich dem Verfahren durch Suizid entzogen. Haist zeichnete das Bild eines Künstlers, dessen Widerstand nicht offen, aber doch existent gewesen sei – im Rückzug ins Private und in der Ambivalenz zwischen Anpassung und innerem Protest.
Den Schlusspunkt der Tagung setzte ISGARD KRACHT (Düsseldorf) mit einem Porträt von Ernst Barlach. Der expressionistische Künstler habe sich durch pazifistische Überzeugungen, seine eigenständige Ästhetik und sein Eintreten für künstlerische Freiheit früh zur Zielscheibe nationalsozialistischer Kulturpolitik gemacht. Während seine Werke offiziell diffamiert wurden, habe dennoch eine Nachfrage bestanden, die Barlach in ein künstlerisches und moralisches Dilemma gestürzt habe. Der Tiefpunkt sei mit der Ausstellung „Entartete Kunst“ erreicht worden, in der seine Werke zur öffentlichen Demütigung ausgestellt wurden. Eine Rehabilitierung zu Lebzeiten blieb ihm verwehrt – ein tragisches Künstlerleben im Schatten der Diktatur, so Kracht.
Die Tagung zeigte in eindrucksvoller Weise, dass Kultur unter der NS-Diktatur kein autonomer Raum war, sondern einem vielschichtigen Spannungsverhältnis von Repression, Anpassung, Opportunismus und symbolischer Selbstbehauptung unterlag. Weder eine heroische Überhöhung kulturellen Widerstands noch eine pauschale Verurteilung von Künstlern als Mitläufer wird dem historischen Befund gerecht. Vielmehr offenbarten die Beiträge ein differenziertes Panorama von Haltungen und Handlungsoptionen, das weit über die etablierte Dichotomie von Widerstand und Kollaboration hinausreicht.
Besonders deutlich wurde, dass kulturelle Ausdrucksformen unter totalitären Bedingungen nicht nur Repräsentationen politischer Haltungen sind, sondern selbst zu Akteuren gesellschaftlicher Dynamiken werden können. Ob durch satirische Zuspitzung, symbolische Distanzierung, nonkonformistischen Lebensstil oder ästhetische Mehrdeutigkeit – Kultur konnte unter dem NS-Regime Orte kritischer Reflexion bewahren, auch wenn sie selten explizit oppositionell war. Die Tagung trug somit nicht nur zur historischen Aufarbeitung kulturellen Handelns im Nationalsozialismus bei, sondern regte zugleich zur weiterführenden Diskussion über die politische Verantwortung von Kunst und Künstlern in autoritären Kontexten an.



Konferenzübersicht:
Freitag, 21. Februar 2025
JEANNETTE URZENDOWSKY, CHRISTOPH STELLOWSKY & TAL BALSHAI (Berlin): Lebensgefährlich komisch – Kabarett im „Dritten Reich“
(Kombination aus Vortrag und Kabarettdarbietung)
Samstag, 22. Februar 2025 (Vormittag)
CHRISTOPH STUDT (Bonn): „Nationale Einheit und partikulare Vielfalt“ – Kultur im Griff der nationalsozialistischen Reichskulturkammer
GUNTHER NICKEL (Mainz): Zwischen innerem Widerwillen und äußerlicher Anpassung – Das beredte Schweigen der „Inneren Emigration“
GREGOR EISENHAUER (Berlin): „…den Leuten ein Bild vom wirklichen Verlauf geben zu geben…“ – Erich Kästner, der bleibende Beobachter
JOACHIM SCHOLTYSECK (Bonn): „Es bleibt ein Stück von mir“! – Carl Zuckmayers Kampf für ein „anderes Deutschland“
Samstag, 22. Februar 2025 (Nachmittag)
ALENKA BARBER-KERSOVAN (Lüneburg): „Meines Erachtens muß jetzt das ganze Übel radikal ausgerottet werden“ (Himmler) – Swingjugend zwischen unpolitischer Subkultur und Abgrenzung zum Nationalsozialismus
CLEMENS SCHAEFFER (Berlin): Nur Schlager, Spaß und schöne Frauen? Die Rolle des Films im „Dritten Reich“
Sonntag, 23. Februar 2025
MATTHIAS HEINE (Berlin): „Der Verderb der Sprache ist der Verderb des Menschen“ – Von „LTI“ über das „Wörterbuch des Unmenschen“ bis heute
IRIS HAIST (Köln): „…ich zeichne nie eine antisemitische Karikatur, diese Schweinereien mache ich nicht mit“ – Erich Ohser (e.o. plauen) zwischen „Vater und Sohn“ und der Wochenzeitung „Das Reich“
ISGARD KRACHT (Düsseldorf): Zwischen deutscher Kunst und „entarteter Kunst“ – Ernst Barlach im Nationalsozialismus
Beiträger: Moritz Müller (Institut für Geschichtswissenschaft, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn), Desmond Otih (Institut für Geschichtswissenschaft, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn), Niklas Pulte (Institut für Geschichtswissenschaft, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn), Theresa Teeke (Institut für Geschichtswissenschaft, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn), Daniel E.D. Müller (Lehrstuhl für Kirchengeschichte des Mittelalters und der Neuzeit, Ruhr-Universität Bochum)
online unter: https://www.hsozkult.de/conferencereport/id/fdkn-155609