„Sie hatten alle Geist und Rang und Namen“ – Mitglieder des Widerstands und ihr Wirken nach 1945

Bericht zur XXIX. Königswinterer Tagung, 2016

Inwiefern das Wirken der Überlebenden und Angehörigen des deutschen Widerstandes an der Erinnerung der Gegnerschaft zur Hitler-Diktatur Anteil genommen hatte, untersuchte die „Forschungsgemeinschaft 20. Juli 1944“ während ihrer XXIX. Jahrestagung vom 26. bis 28. Februar in Bonn vornehmlich anhand ausgewählter Nachkriegs-Biographien.

Den Einstieg in das Vortragsprogramm unternahm FRANK DECKER (Bonn) mit einem Referat über die Protestkultur in Deutschland nach 1945. Protest und Populismus seien als Formen politischer Partizipation über eine große Bandbreite konventioneller/unkonventioneller und legaler/illegaler Protestformen bis hin zur Systemfeindlichkeit eng miteinander verbunden, da sich beide gegen politisch etablierte Kräfte richteten. Ein „allgemeines Entwicklungsgesetz“ der Partizipationsbereitschaft innerhalb der politischen Kultur der Bundesrepublik sei nicht festzustellen, wohingegen Trendwenden etwa mit der Wiedervereinigung und dem Aufkommen neuer Medien zu erkennen seien. Das Erstarken rechtspopulistischer Kräfte in neuerer Zeit und die prominente Besetzung des politischen Protestes von rechts erklärt Decker mit soziokulturellen Problemen und Verlustängsten innerhalb der Bevölkerung. Großflächige Veränderungen der Protestkultur seien trotz Pegida, das sich als dezidiert ostdeutsches Phänomen des „auf die Straße getragenen Widerstandes“ darstellt, nicht erkennbar: Neuer Ort des Protestes und der Hasspropaganda gegen die politische Elite seien vielmehr die sozialen Medien geworden.

Der für „Intensivierung der Presse und Propaganda“ zwischen 1951 und 1953 bei Adenauer als Staatssekretär tätige katholische Jurist Otto Lenz habe in der jungen Bundesrepublik ausdrücklich aus den Erfahrungen des Widerstandes heraus agiert, betonte GÜNTER BUCHSTAB (Sankt Augustin/Rheinbach). Lenz habe neben Beck und Wirmer Kontakte zu zahlreichen anderen Widerstandskämpfern unterhalten und in Gegnerschaft zum Regime nicht nur persönliche Karrierechancen ausgeschlagen, sondern nach dem 20. Juli auch um sein Leben fürchten müssen. Nach dem Krieg agierte Lenz als Mitbegründer der Berliner CDU und wurde im Kanzleramt schließlich durch seine ausgeprägte Fähigkeit zu „öffentlicher Meinungsmache“ einer der wichtigsten Akteure, um öffentliche Zustimmung sowohl für die Politik des Bundeskanzlers als auch für den Bestand des neuen Staates herbeizuführen. Als einer der ersten habe Lenz aus Erkenntnissen der Meinungsforschung die Public-Relations der Bundesregierung subtil wie effektiv beworben und zugleich die so generierte Medienmacht für eine Politik einsetzen können, die er bereits im vorletzten Kriegsjahr als Instrument einer Zeit nach Hitler festgehalten hatte: Der Aufstieg des Nationalsozialismus schien für ihn nur durch fehlende Öffentlichkeitsarbeit der Regierung und daraus folgende mangelnde öffentliche Akzeptanz der Weimarer Demokratie möglich gewesen zu sein.

Neben Idealen aus der Romantik und dem Christentum sei das politische Handeln Theodor Steltzers von den Erfahrungen der Verfolgung durch das NS-Regime geprägt gewesen, berichtete dessen Biograph KLAUS ALBERTS (Kiel).[1] Steltzer sei in der Umgebung des Moltke-Kreises und des norwegischen Widerstandes aktiv gewesen und nur durch skurrile Intervention Himmlers 1944 dem sicheren Tode entgangen. Früher wie später sei er als „harmonischer Utopist“ ein Gegner des Parteienstaates gewesen, gründete dennoch die Ost-CDU mit und kämpfte mit und bei Andreas Hermes für eine gesamtdeutsche Politik. Aus gleichem Grund habe Steltzer in Weimarer wie in bundesrepublikanischer Zeit nie politisch wirkmächtig werden können, führte Alberts aus. Dem Glauben an die „Stunde Null“ folgten Resignation, Enttäuschung, Dänemarkreisen und eine außergewöhnliche Karriere als „Kulturaristokrat“. Volks- und geistige Bildung galt Steltzer beim Neuaufbau der Gesellschaft ebenso wie bei der Formierung der europäischen Idee als zentrales Instrument, dessen Anwendung er in zahlreichen Positionen auf lokaler und internationaler Ebene selbst zu forcieren bestrebt war.

Fabian von Schlabrendorffs Lebensweg als „Offizier gegen Hitler und Jurist für die Republik“ untersucht MARIO MÜLLER (Chemnitz) derzeit in seiner Doktorarbeit. Schlabrendorff ist nicht nur an zahlreichen Attentatsversuchen gegen Hitler beteiligt gewesen, sondern prägte vor allem mit seinem einflussreichen Werk „Offiziere gegen Hitler“ als Lobbyist des militärischen Widerstandes die Erinnerung an diesen entscheidend mit.[2] Nach jugendlicher Prägung im preußisch-deutschen Elternhaus bemühte er sich in der DNVP um Abgrenzung zum Nationalsozialismus, für den er jedoch zuerst nicht ohne Sympathien geblieben sei. Später dann klarer Widerspruch zum NS und bereits 1932 die Überzeugung, dass Hitler „vernichtet werden“ müsse. Nach dem Krieg konnte Schlabrendorff als einer der wenigen Überlebenden des Widerstandes nicht nur in Nürnberg vom Gewesenen berichten, sondern in der Bundesrepublik die Bewertung des Widerstandes nicht als Verrat, sondern als pflichtbewusste Handlung Einzelner darstellen. Die Deutschen sah er unter Hitlers Herrschaft zunächst untätig und betonte, dass der 20. Juli mehr Episode denn Aktion des ganzen Volkes gewesen war. Schlabrendorff wollte sich für das Andenken der Überlebenden wie der Toten des Widerstandes einsetzen und verteidigte das Erbe des „anderen Deutschlands“ zunehmend auch auf juristischem Parkett. Immerzu sei er dabei an der Sicherstellung von Quellen bemüht gewesen, welche die Verbrechen der Wehrmacht und die Aktivitäten der Widerstandskämpfer innerhalb des deutschen Militärs dokumentieren.

Axel Freiherr von dem Bussche habe aufgrund seiner Biographie zum Widerstand geradezu finden müssen, führte GEVINON GRÄFIN VON DEM BUSSCHE (Lüdenscheid) in ihrem Beitrag aus. Neben der skandinavischen und christlichen Prägung seines Elternhauses seien für ihn vor allem das Miterleben von Massenmorden im Krieg entscheidend gewesen, sich dem 20. Juli anzuschließen. Der erfolglose Ausgang des Attentatsversuches sei für von dem Bussches Handeln in der Bundesrepublik wesentlich gewesen, den eigenen Lebensauftrag habe er als Festigung und Übung von Moral in der Politik verstanden. Zeitlebens habe er sich vor Gott und den Menschen verantwortlich gefühlt. „Auch im Frieden Verantwortung“ wollte er wie die meisten seiner noch lebenden Mitverschwörer in regelrechten Wanderbewegungen: Zuerst als Militär, dann als Diplomat, Pädagoge, später als Umweltpolitiker und Wirtschaftsberater.

„Staatslehre im Widerstand“ betrieb der katholische Jurist Hans Peters im Umfeld des Kreisauer Kreises, wusste LEVIN VON TROTT ZU SOLZ (Berlin) auszuführen.[3] Wie sein Großvater Zentrumsmann, kam Peters aus kulturkämpferischer Sozialisation und geriet zunehmend in Konflikt mit der NS-Kirchenpolitik. Für Moltkes nach Hitler zu schaffenden Staat sollte er eine Theorie der Selbstverwaltung im Staatsaufbau und der Hochschulbildung ausarbeiten, zudem unterhielt er Kontakte zur Berliner Widerstandsgruppe „Onkel Emil“. Nach dem Krieg sei Peters ausgesprochen kritisch gegenüber der Westbindung gewesen, gehörte aber dennoch zu den CDU-Mitgründern und war für die Union wieder im Bereich der juristischen Gestaltung des Staatsaufbaus eingesetzt. Später erhielt er Professuren in Berlin und Köln, wo er auch lokalpolitisch aktiv blieb. Ebenso strebte er den Wiederaufbau der Görres-Gesellschaft an und kämpfte juristisch gegen die Rehabilitierung ehemaliger Nazi-Juristen.

Inwiefern die „Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit“ im Kalten Krieg als Fortsetzung des Widerstands gegen Hitler zu werten sei, fragte ENRICO HEITZER (Berlin).[4] Die KgU verstand den Kampf gegen den Kommunismus als Fortführung der Gegnerschaft zum Nationalsozialismus und verkörperte durch Spionagetätigkeit und politischen Einsatz für die Wiederbewaffnung eine radikale Form des westdeutschen Konsenses im Kalten Krieg. Sie rekrutierte unter anderem aus verschiedenen Widerstandskreisen, unterhielt jedoch auch Kontakte ins rechtsradikale Milieu. Nachdem interne persönliche Auseinandersetzungen und Mitgliederverluste die Gruppe zunehmend geschwächt hatten, hatte sie von der Zusammenarbeit mit amerikanischen Geheimdiensten profitiert. Diese seien jedoch nicht an den Vorstellungen des „Widerstandes“ der Kampfgruppe interessiert gewesen, sondern an deren operativen Fähigkeiten gegen die Sowjetunion.

Krankheitsbedingt in Abwesenheit verlesen werden musste der Vortrag von FRAUKE GEYKEN (Göttingen) zu Annedore Leber, die als Widerstandskämpferin und Nachlassverwalterin des deutschen Widerstandes zunehmend in Vergessenheit geraten sei.[5] Als junge Frau eher links orientiert und mit dem später von den Nationalsozialisten hingerichteten Sozialdemokraten Julius Leber verheiratet, sei sie bereits früh in entschiedene Gegnerschaft zu Hitler getreten und soll auch in die Vorbereitungen zum 20. Juli involviert gewesen sein. Nach 1945 sei ihr Leben von Trauer dominiert worden, welche sie später in Kraft habe umsetzen können. Bis zu ihrem Tod wirkte sie als Journalistin, Autorin und Verlegerin vor allem für Frauen und Jugendliche. Immerzu habe sie sich hierbei für die Bewahrung der Erinnerung an das Vermächtnis des Widerstandes eingesetzt. In neuerer Zeit sei Annedore Leber jenseits des Angehörigenkreises und der Überlebenden des Widerstandes in Vergessenheit geraten, aber gerade deshalb heute als lohnenswerte Neuentdeckung zu betrachten.

Die Tagung beschloss CHRISTINE FRIEDERICH (Ulm) mit einem Beitrag zu Inge Scholl, die als „Sophies Schwester“ Erinnerung und Erbe der Münchner Studentengruppe nach 1945 eigenmächtig zu verwalten suchte.[6] Selbst zwar am widerständigen Handeln der „Weißen Rose“ unbeteiligt gewesen, hatte sie jedoch neben dem Zugriff auf persönliche Quellen der Scholls als Familienmitglied eine gewisse „Autorität der Schwester“, die sie gegen die „Autorität der Archive“ aufwiegen wollte. Zentral sei die Bestrebung gewesen, die Erinnerung an die Geschwister vor „Verzerrungen“ zu schützen und so versuchte sie ihre ganz eigene Geschichtsinterpretation des Geschehenen zu vertreten. Neben christlichen Motiven habe bei dieser Erzählung nicht Ereignisgeschichte, sondern Moral im Zentrum gestanden und das Motiv der Freiheit und des Freiheitskampfes immer stärkere Betonung gefunden. Die von Inge gegründete Volkshochschule Ulm verstand sich als zeitkritische und aufklärerische Erbin des Widerstandes, die sich gegen Vereinnahmungsversuche im Kalten Krieg verteidigen musste. Die private Familienerzählung der Scholls wurde durch das Engagement Inge Scholls zunehmend zu einem allgemeinen Narrativ: Dieses Narrativ wirkte in dem noch jungen Staat der Bundesrepublik als gesellschaftlicher „Kitt“ und konnte die zahlreichen Debatten um den Bestand und die Zukunft des Weststaates immer stärker an sich selbst orientieren.

Die Beschäftigung mit dem Nachwirken und Wirken der Widerstandskämpfer gegen das NS-Regime nach 1945 hatte auf der Tagung der „Forschungsgemeinschaft 20. Juli 1944“ gezeigt, dass zahlreiche Perspektiven auf die Geschichte des Widerstandes noch nicht vollständig ausgeleuchtet sind, dennoch scheinen diese Fragestellungen derzeit keine Konjunktur zu haben. Das mag auch daran liegen, dass sich die akademische Geschichtswissenschaft lange auf die Beschäftigung mit den Tätern des Nationalsozialismus konzentriert und den Widerstand gegen das Regime weniger stark betrachtet hat. Diesem Trend könnte jedoch leicht, so haben zahlreiche Referenten in ihren Vorträgen betont, durch die Vorlage neuer Quellen entgegengewirkt werden. Abschließend blieb der Appell an die Familien des Widerstandes, weiteres Überlieferungsmaterial an Archive zu übergeben und es durch diesen Schritt allgemein zugänglich und somit überhaupt erst für die Forschung nutzbar zu machen.

Konferenzübersicht:

Frank Decker (Bonn): Von „Ohne mich!“ zum „Wutbürger“ – Protestkultur in Deutschland nach 1945. Ein Erbe des Widerstands gegen das „Dritte Reich“?

Günter Buchstab (Sankt Augustin/Rheinbach): Otto Lenz – Loyaler Staatssekretär Adenauers auf dem Weg zu einem „neuen Goebbels“?

Klaus Alberts (Kiel): „…aber ich will in der Welt das Ganze tun, was ich nur immer tun kann“ – Theodor Steltzer in der deutschen Politik nach 1945

Mario Müller (Chemnitz): Fabian von Schlabrendorff – Offizier gegen Hitler und Jurist für die Republik

Gevinon Gräfin von dem Bussche (Lüdenscheid): Auch im Frieden Verantwortung übernehmen – Axel Frhr. von dem Bussche

Levin von Trott zu Solz (Berlin): Hans Peters – Staat und Kirche denken: Kreisauer Vision und bundesdeutsche Wirklichkeit

Enrico Heitzer (Berlin): Fortsetzung des „Widerstands“ gegen einen neuen Feind? Die „Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit“ (KgU) im Kalten Krieg (1948-1959)

Frauke Geyken (Göttingen): Annedore Leber – „Die kennt doch keiner!“

Christine Friederich (Ulm): Inge Scholl – Erinnerung und Erbe der „Weißen Rose“ bewahren

Fußnoten:

[1] Vgl. Klaus Alberts, Theodor Steltzer. Szenarien seines Lebens. Eine Biographie, Heide 2009.

[2] „Offiziere gegen Hitler“ war eines der ersten Bücher, die den militärischen Widerstand gegen Hitler in der Bundesrepublik überhaupt thematisierten. Erstauflage 1946, später zahlreiche weitere Auflagen; vgl. Fabian von Schlabrendorff, Offiziere gegen Hitler, München 1997.

[3] Vgl. Levin von Trott zu Solz, Hans Peters und der Kreisauer Kreis. Staatslehre im Widerstand (Rechts- und staatswissenschaftliche Veröffentlichungen der Görres-Gesellschaft; N. F., Band 77), Paderborn u.a. 1997.

[4] Vgl. Enrico Heitzer, Die Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit (KgU). Widerstand und Spionage im Kalten Krieg 1948-1959 (Zeithistorische Studien, herausgegeben vom Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam; Band 53), Köln u.a. 2015.

[5] Vgl. weiterführend zu Frauen im Widerstand Frauke Geyken, Wir standen nicht abseits. Frauen im Widerstand gegen Hitler, München 2014.

[6] Vgl. die unter dem Mädchennamen der Autorin erschienene Studie Christine Hikel, Sophies Schwester. Inge Scholl und die Weiße Rose (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte, herausgegeben vom Institut für Zeitgeschichte; Band 94), München 2013.

Beiträger: Gabriel Rolfes, Abteilung für Geschichte der Neuzeit, Institut für Geschichtswissenschaft, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn

Tagungsband: Felix Kraft/Christoph Studt (Hrsg.): „Sie hatten alle Rang und Geist und Namen“. Mitglieder des Widerstands und ihr Wirken nach 1945 (Schriftenreihe der Forschungsgemeinschaft 20. Juli 1944 e.V., Bd. 24), Augsburg 2018.

Eine Übersicht aller Tagungsbände finden Sie hier.